Die Begegnung
Die folgenden Tage waren von Unsicherheit geprägt. Sie war müde des Träumens, müde auf die Wiederkehr des „Frühlings“ zu warten mitten im Herbst ihres Lebens. Längst hatte sie Abschied genommen von dem einst geträumten Traum, mit ihm am Ufer des Sees sitzend die Füße einzutauchen, voll innerer Wärme die Kühle des Wassers nicht spürend… Sie wusste nicht, wie sie auf das sie völlig überraschende Lebenszeichen von ihm reagieren sollte. Immer und Immer wieder hatte sie inzwischen die von ihm ausgesuchten Songs abgespielt, die von Liebe und der Unendlichkeit sprachen. Sie hatte Angst, mehr hinein zu interpretieren, als dies alles vielleicht zu bedeuten hatte. Am Himmel verwischten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne den Horizont. Eine sternenklare Nacht stieg herauf. Sie dachte über die Worte eines Freundes nach, der das Sein, das Dasein der Menschheit im Universum, mit den Worten beschrieb: „Unser aller Leben ist nur ein winziger Teil des Todes, denn zuvor „todeln“ wir, dann kommt der Teil, in dem wir leben, um danach wieder weiter zu „todeln“. Unser Sein im Universum ist also unendlich. Im Moment schien ihr nur die Hoffnung und die Liebe unendlich zu sein…und das Warten. Inzwischen waren die Tage ausgefüllt mit Vorbereitungen auf bevorstehende Lesungen ihres ersten veröffentlichten Buches. Die allererste Lesung hatte ihr zuvor schlaflose Nächte bereitet. Eine bis dahin anonyme Leserschaft hatte plötzlich viele einzelne Gesichter bekommen, die tiefgehende Fragen stellten. Der erste Applaus mitten in einer Lesung hatte sie damals in kindliches Staunen versetzt und ebenso hatte sie es verwundert, dass man sie selbst als Protagonistin ihrer Erzählung sah. Es gelang ihr nur mit Mühe die Anwesenden zu überzeugen, dass sie lediglich ihre Gedanken und Erfahrungen, ihre momentanen Wertungen bestimmter Ereignisse und Gefühle auf diese Romanfigur projiziert hatte. Sie hatte diese Romanfigur erschaffen, um sich mitzuteilen. Und sie hatte während des Schreibens so etwas wie ein „zweites Ich“ entdeckt. Dieses zweite Ich spiegelte sich teilweise in dieser Hauptfigur wider. Bei jedem Klingeln des Telefons schrak sie angst- und doch erwartungsvoll zusammen. Als er endlich anrief, erkannte sie seine Stimme nicht und als sie endlich begriff, dass Robert am anderen Ende der Leitung zu ihr sprach, verstand sie in ihrer Aufregung nicht mehr den Sinn seiner Worte, obwohl sie ihm doch zuhörte. Erst nach und nach gelang es ihr, sich zu konzentrierter Aufmerksamkeit zu zwingen. Sie spürte, dass es auch ihm nicht leicht fiel zu der früheren Unbeschwertheit zu finden. Das gab ihr allmählich die eigene Sicherheit zurück. Auf seine Frage „Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?“, fiel ihr keine Antwort ein, obwohl sie ihm doch so viel zu erzählen hatte. Es entstand eine Pause. „Darf ich dich irgendwann wieder anrufen?“ „Ja natürlich!“ antwortete sie hastig – zu hastig, wie sie empfand, doch es war schon zu spät, darüber noch nachzudenken. Sie stellte keine Fragen. Irgendwann würde sie fragen, doch im Moment schienen ihr alle Fragen, die ihr ein Jahr lang auf der Seele brannten, unpassend. „Dafür ist später noch Zeit.“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, nachdem er aufgelegt hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch einmal anrufen würde nach ihren spärlichen und nichts sagenden Antworten. Wenige Tage später jedoch hielt sie seinen Brief in den Händen… „Liebe Maria, ich habe alle Deine Briefe, die Du mir in den zurückliegenden Monaten schriebst und in denen viel Gefühl und etliche Fragen miteinander verschmelzen, mitbesonderer Sorgfalt gelesen. Da ich mich bis zu diesem Zeitpunkt zu keiner Deiner vielen Zeilen geäußert habe, möchte ich nun mein Schweigen brechen und Dir eine Antwort auf all Deine Fragen geben. Ich möchte Dich wiedersehen. Vielleicht schreibst Du mir, ob Du es ebenfalls möchtest…Robert“ Sie betrat das Foyer des kleinen Hotels am Rande der Stadt. Halbdunkel herrschte um diese Zeit und unwillkürlich beschlich sie ein Gefühl der Angst. Unschlüssig blieb sie inmitten des Raumes stehen, suchend glitt ihr Blick hinüber zur Treppe, die vermutlich zu den Zimmern des Hotels hinauf führte. Fester umklammerte sie den Griff ihrer kleinen Reisetasche, so als böte er ihr Halt. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das dämmrige Licht und erst jetzt bemerkte sie den schlafenden Mann hinter der Rezeption. „Er schläft. Er bemerkt mich nicht einmal. Wovor hab ich Angst? Keiner kennt mich in dieser Stadt, keiner wird je erfahren, dass ich hier war. Noch kann ich umkehren…!“ Doch wie magisch näherte sie sich Schritt für Schritt der Portiersloge. Er schlief noch immer. Sein Kopf war leicht vornüber gebeugt, so als lese er in der Zeitung, die vor ihm ausgebreitet auf dem Tresen lag. Leise hüstelte sie, um ihn nicht zu erschrecken. Doch er wachte nicht auf. Diese scheinbare Ohnmacht des Portiers machte ihr Mut. Sie klopfte mit dem Autoschlüssel sanft auf das Holz. Sie hatte Erfolg. Er hob den Kopf und langsam, ein wenig blinzelnd, öffnete er die Augen. Unerwartet rasch stand er auf. „Verzeihen Sie bitte, eigentlich passiert mir das nie!“ sprach er hastig, dabei lächelte er sie wie um Entschuldigung suchend an.
Ihre Angst war verflogen. Sie lächelte erleichtert zurück. „Was kann ich für Sie tun, meine Dame?“ fragte er höflich. Sie musste noch ein wenig mehr lächeln über diese Anrede. „Dame?“ dachte sie, „ist es damenhaft, was mich hier her führt!?“ Zweifelnd dachte sie es. Und dennoch antwortete sie ganz damenhaft: „Nun, ich werde erwartet von einem Geschäftspartner. Er ist vermutlich bereits eingetroffen und auf seinem Zimmer, vielleicht könnten sie ihn rufen und ihm meine Ankunft melden?“ Sie nannte den Namen. Der Portier lächelte verbindlich und erwiderte freundlich: „Ah, ja, er ist bereits seit zwei Stunden hier. Er bat mich, Ihnen die Zimmernummer zu nennen, er wollte einwenig schlafen, weil er ihre genaue Ankunft nicht kannte.“ Er nannte ihr die Zimmernummer und begleitete sie bis zur Treppe, indem er ihre Tasche trug, um, so hatte es den Anschein, sie bis zum Zimmer zu begleiten. Sie dankte und bat um ihre Tasche, sie würde das Zimmer sicher allein finden. Er verstand.
Der lange Korridor war mit weichem Teppichboden ausgelegt, der den Klang ihrer Schritt dämpfend aufsog. Es kam ihr deshalb wie ein katzenhaftes Anschleichen vor, als sie sich der Zimmernummer näherte, die ihr der Portier zuvor genannt hatte. Unschlüssig stand sie vor der Tür. Sollte sie klopfen? Sollte sie die Tür einfach leise öffnen? Wieder beschlich sie diese unbestimmbare Angst. „Was tue ich nur?“ Diese Frage hatte sie in den letzten Tagen oft beschäftigt. Eine Antwort darauf hatte sie sich nicht geben wollen oder können. Jetzt aber schien es zu spät. Ihre Hand umklammerte bereits den Türgriff. Vorsichtig drückte sie die Klinke herab. Die Tür war nicht abgeschlossen. Langsam öffnete sie die Tür und betrat das Zimmer. Es war dunkel, dunkler noch als im Korridor. Vom Fenster her nur stahl sich fahles Licht von außen ins Zimmer. Davor nahm sie die Silhouette eines Mannes wahr.
Er stand mit dem Blick abgewandt dort und schien in die Dämmerung hinaus zu starren. Reglos stand er da. Er wandte sich nicht nach ihr um. Hatte er sie nicht eintreten gehört? Durch das geöffnete Fenster klang – fast einer Sinnestäuschung gleich – von fern das Läuten von Glocken. „Eine Kirche scheint in der Nähe zu sein!“ durchzuckte sie es ungläubig. Glockengeläut um diese Zeit? Oder war es doch eine Sinnestäuschung? Noch immer nicht wandte er ihr den Blick zu. Er schien gleichfalls zu lauschen. Sie trat an ihn heran, dicht, sie atmete seinen Geruch, der ihr vertraut schien, obwohl sie ihm zuvor noch nie so nahe war wie in diesem Moment. Sie stellte die Tasche zu Boden und griff nach seinen Händen, lehnte ihren Kopf an seinen Rücken, Halt suchend.
Langsam wandte er sich um. Sein Gesicht konnte sie im Dunkel nicht erkennen. Das spärliche Licht hinter ihm von den herauf scheinenden Straßenlaternen malte erschreckend große Schatten an die Wände des Zimmers. Beklommen ließ sie seine Hände los. Im gleichen Moment fühlte sie seinen Atem dicht über ihrer Stirn. Er hob ihr Kinn sanft mit der Hand seinen Lippen entgegen und berührte die ihren mit zartem Druck. Ein Schauer rann ihr den Rücken hinab. Sie fühlte, wie die Anspannung von ihr wich und ihren Körper weich machte. Noch wollte sie ihre Hände abwehrend gegen ihn heben, als seine Arme sie zärtlich umfingen. Sie senkte den Kopf und lehnte an seiner Brust. Sie hörte sein Herz schlagen, sein Blut rauschen, es schien ihren eigenen Herzschlag zu übertönen. Sie hob ihre Hände, strich ihm über die Stirn, über Augen, Wangen und Lippen, zart berührte sie mit den Fingerspitzen die Beuge zwischen Hals und Schulter. Dann ruhten ihre Hände auf seinen Schultern. Lange standen sie so. Regungslos. Fast atemlos. Sie spürten endlich diese Nähe, nach der sie sich so lang schon gesehnt hatten. Sie wollten diese Nähe durch nichts stören, jede Bewegung hätte das Ende dieses „sich nahe sein“ bedeuten können.
Plötzlich schrillte erbarmungslos das Telefon neben dem Bett. Sie zuckten beide zusammen. Fast zu plötzlich lösten sie sich voneinander, so, als hätten sie etwas Verbotenes getan und jemand sie dabei überrascht. Sie taumelte und hielt sich an dem geöffneten Fensterflügel fest. Er ging zum Telefon, nahm den Hörer ab und lauschte. Es war nur der Portier, der fragte, ob sie etwas brauchten. Er verneinte und erwiderte freundlich bestimmt, er werde sich melden, wenn er etwas brauche. Er blieb auf dem Bett sitzen, schaltete die kleine Nachttischleuchte ein und sah zu ihr. Sie stand noch immer wie erstarrt am Fenster. Er streckte beide Hände nach ihr aus. Noch immer hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Die Stille war wohltuend, das empfanden sie Beide. Wozu Worte, sie wussten alles, alles war schon gesagt, so schien es ihnen in diesem Moment.
Sie ging zu ihm. Sie stand vor ihm, er blickte zu ihr auf. Sie sah ihm in die Augen, das erste Mal. Sie fühlte seinen Blick körperlich. Noch immer sahen sie sich unverwandt an, so, als könnten sie nicht glauben, dass sie sich in diesem Moment wirklich wahrnahmen, dieses Wahrnehmen, was sie so herbeigesehnt hatten.
Sie beugte sich zu ihm, küsste ihn auf die Stirn. Er schloss die Augen. Sie kniete vor ihm nieder und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Er ließ sie gewähren…Er strich ihr übers Haar. Sie sah zu ihm auf und lächelte ihn an. Sein Blick war zärtlich, voller Liebe und verhaltener Sehnsucht…“Maria…“ flüsterte er leise ihren Namen. „Ja, Robert, ich bin es. Ich bin bei Dir. Und ich werde bei Dir sein, immer…nicht körperlich, und dennoch…“ Schweigend verstand er, was sie meinte. So wie all die Tage, Wochen, Monate, ja Jahre zuvor, die sie einander innerlich nah waren. Jetzt fühlten sie, dass sie diese Nähe zueinander niemals verlieren würden, selbst wenn Kontinente sie trennten. Sie waren eins, sie waren einander Spiegel der Seele des anderen. Und sie wussten es. Sie erhob sich, um sich neben ihn zu setzen, er legte den Arm um sie. Maria lehnte ihren Kopf an seine Schulter, seine Hand suchte die ihre. Leise vernahmen sie aus irgendeinem der Nebenräume Musik. Sie lauschten. Plötzlich rannen unaufhaltsam Tränen über ihre Wangen. Er erschrak. „Maria, warum weinst du, weine nicht, Liebes, wir werden uns niemals mehr verlieren, niemals mehr!“ Wie ein Schwur klang es. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen fort, er zog sie enger an sich heran. Und urplötzlich schlang sie beide Arme um seinen Körper, sie drängte sich ungestüm an ihn, er hielt sie fest umschlungen. Er spürte ihre Erregung. Beruhigend strich er ihr das Haar aus der Stirn. Er lächelte sie an und mit einem leisen „Verzeih!“ versuchte sie, ihre Tränen zu entschuldigen. Ihr Atem wurde ruhiger. Sie schloss die Augen, als er sich über sie beugte… „Robert…“ flüsterte sie. „Sag nichts, Maria…“ sagte er leise und legte behutsam seine Hand über ihre Lippen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Er küsste sie, erst behutsam, dann immer drängender. Und immer leidenschaftlicher erwiderte sie seinen Kuss…Um sie herum versank das Zimmer, die Musik, das Dämmerlicht. Nichts nahm sie mehr wahr als nur noch ihn…so wie er sie. Sie spürte gleichsam eine innere Entspannung, die einer unaufhaltsam steigenden wohltuenden Erregung wich. Ihre Hände umfingen sein Gesicht. Sein ganzer Körper drängte sich an den ihren, nahe wollten sie sich sein, sich fühlend nahe sein.
Er versuchte, ihre Bluse zu öffnen, es gelang ihm nicht, sie half ihm dabei und dann fühlte sie seine warmen Hände auf ihrer Haut. Ein Schauer rann durch ihren Körper. Sie hielt den Atem an, so, als wolle sie sich nur noch auf das Fühlen konzentrieren mit all ihren Sinnen. „Oh Robert, ich hab mich so nach dir gesehnt“ flüsterten ihre Lippen. „Pssst, sag nichts, ich weiß, ich weiß alles…weil ich es fühle, all das, was du fühlst, Maria!“ Leise vernahm sie seine Worte, so als kämen sie aus ihr selbst. Er legte seinen Kopf an ihre nackten Brüste, zart liebkosend strich sie ihm übers Haar. So viel Wärme spürten sie in sich füreinander, dass sie die kalt hereinströmende Nachtluft nicht mehr wahrnahmen. Dicht nebeneinander lagen sie und gaben sich dem anderen hin. Grenzenloses Vertrauen im wortlosen Beieinandersein. Nur noch den anderen nahmen sie in sich wahr. Behutsam streichelnd liebkosten sie einander, so als verführten sie einander. So, als wäre es für Beide das erste Mal. Vergessen war die Welt um sie, nichts existierte mehr, nur noch sie selbst im einander Geben und Nehmen.
Seine Hand streifte sacht ihr Kleid nach oben, willig ließ sie es geschehen. Alle Scham war begraben, jede Hemmung war verloren. Sie wollte ihn, so wie er sie.Wilde Begierde und sanfte Liebkosung wechselten im Rausch ihrer Sinne. Bis zur Ekstase begehrten sie einander. Sie wehrte sich nicht und ließ es geschehen, voller kindlichem Staunen und voller Genuss gab sie sich ihm hin, als er sie nahm.Wohliges Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Ihre Hände krampften sich in seine Schultern, bis sie aufschrie und versuchte, ihren Schrei mit dem Handrücken vor dem Mund zu unterdrücken. Er küsste ihre ihm zugekehrte Handinnenfläche, während sich ihr Körper ihm entgegenbäumte. Immer wieder flüsterte er ihren Namen, so, als würde er sie rufen, um sie noch näher zu spüren. Noch im Spiel der Gefühle sank er ermattet neben sie. Langsam, ganz langsam nur, kehrten sie zurück in die Wirklichkeit. Eng aneinander gedrängt, den Atem des anderen auf der Haut spürend schliefen sie ein…traumlos, ermattet und sich unendlich nah…sein warmer Atem in ihrem Nacken kitzelte sie sanft, mit einem Lächeln genoss sie noch im Schlaf seine Nähe. Sie hatten die Hände ineinander verschlungen, so, als fürchteten sie, beim Erwachen allein zu sein, festhalten wollten sie diese Nähe und sich selbst…
Er erwachte. Es war kalt im Zimmer. Behutsam zog er die Bettdecke hinauf, die wohl in der Nacht herab geglitten war, um Maria nicht zu wecken. Doch sie war längst wach, hielt nur die Augen geschlossen. Sie wollte nicht erwachen. Sie wollte festhalten an der Nacht, die dennoch in den frühen Morgen hinein entglitt. Die Wärme seines Körpers fühlend genoss sie, wie er sich bemühte, sie nicht zu wecken. So, als schliefe sie noch, barg sie ihren Kopf in seiner Armbeuge, um seinen Atem zu spüren. Einem Kind gleich kuschelte sie sich an ihn und er barg sie in seinen Armen…Ruhig und tief war sein Atem, zugleich auch beruhigend in seiner Sanftheit fühlte sie, dass sie diese Verbundenheit mit sich nehmen würde, in sich bewahren würde sie den Zauber dessen, was sie ihm so nah gebracht hatte. Diese eine Nacht. Sie würden sich niemals mehr verlieren. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Er sah es lächelnd und sein Blick umfing sie warmherzig. „Guten Morgen, Maria!“ Und er zog sie näher an sich heran, ganz nah…sein Kuss war liebevoll und sanft. „Guten Morgen, Robert“ erwiderte sie leise.
Draußen ging die Sonne auf…der Tag begann…ein neue Tag für Beide, so als würde eine neue Zeitrechnung beginnen. Es war der Tag des Abschieds und zugleich eines neuen Anfangs, der Anfang einer tiefen inneren Verbundenheit, die sie wie ein unsichtbares Band aneinander gefesselt hatte und das sie für ewig verbinden würde im Erinnern an diese einzige Nacht. Tiefe Ruhe und Vertrauen erfüllte sie füreinander…Sie wussten es ohne Worte.
Während sie unter der Dusche war, hatte man das Frühstück aufs Zimmer gebracht. „Es ist wie im Film, so, als sei ich nicht wirklich hier.“, dachte sie, als sie das Zimmer wieder betrat und den kleinen runden gedeckten Tisch sah. Robert hatte die Vorhänge weit zurückgezogen, so dass das Zimmer hell vom Sonnenlicht durchflutet wurde. Er schob die beiden Sessel näher an den kleinen Tisch. Der frische Kaffee duftete und füllte den Raum aus. Das Bett war noch zerwühlt von der vergangenen Nacht. Sie vermied es hinüber zu sehen, so, als wäre es ihr unangenehm. Er bemerkte es und fragte leise: „Bereust Du es?“ Sie schüttelte heftig verneinend den Kopf. Sie sah ihn an. Einen Augenblick lang bemerkte sie seine Unsicherheit. Sie lächelte und ging zu ihm, schmiegte sich an ihn und flüsterte: „Wenn ich dies alles hier festhalten könnte, Dich, diese Nacht, das Erwachen, den Sonnenschein, ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden, Robert! Ich werde dies alles niemals mehr vergessen. Und ich bin dir dankbar dafür.“ Abwehrend hob er die Hände, bevor er sie an sich zog. „Nein, Du hast keinen Grund, mir dankbar zu sein. Was du empfindest, das fühle auch ich, und ganz gleich, was sein wird, diese gemeinsame Erinnerung gehört uns ganz allein.“„Ja, uns beiden ganz allein.“, flüsterte sie leise, sich dessen bewusst, dass es ein Geheimnis bleiben würde.
Nach dem sie gefrühstückt hatten, standen sie beide am Fenster und sahen hinaus auf die Stadt. Er stand hinter ihr und hatte die Arme um sie gelegt. Sacht lehnte sie sich an ihn, sie fühlte seinen Atem und lauschte auf seinen pulsierenden Herzschlag. Er senkte den Kopf und sie fühlte seine Wange an der ihren. Sie fühlten beide, der bevorstehende Abschied würde schmerzlicher sein, als sie es je zuvor erwartet hatten. Sie wandte sich um und sah ihn an. Sie bezwang die aufsteigenden Tränen, bevor sie zu sprechen begann: „Robert, was immer auch geschieht, zweifle nie an der Aufrichtigkeit meiner Gefühle für Dich. Es ist mir wichtig, dass Du es weißt und mir glaubst.“ Er nahm schweigend ihren Kopf zwischen seine Hände und verschloss mit einem sanften Kuss ihren Mund. „Ich weiß es längst, Maria…“ Er sah auf die Uhr. „Ich muss…du weißt…!“ Sie nickte stumm. Sie ging zu dem noch immer zerwühlten Bett und glättete die Kissen. Es schien ihr, als strömten sie noch die Wärme ihrer Körper aus. „Verlass Du zuerst das Zimmer.“, bat sie leise. Er wandte sich ihr zu, umfing sie noch ein letztes Mal und flüstere ihr zu. „Ich liebe Dich, Maria!“ dann wandte er sich abrupt um und verließ das Zimmer. Mit angehaltenem Atem lauschte sie den sich entfernenden Schritten. Dann war es still. Sie ging zum Fenster und schaute hinab. Nach wenigen Minuten sah sie seinen Wagen davon fahren.
Nun erst ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte hemmungslos, doch es waren keine Tränen der Verzweiflung. Es brach einfach aus ihr heraus, Glück, Dankbarkeit und Traurigkeit in einem, doch Verzweiflung war es nicht. Als die Tränen versiegt waren, ging sie vom Fenster zurück und legte sich aufs Bett, so, als suche sie noch seinen Duft einzuatmen. Sie lag lange so ohne wirklich zu denken. Sie hörte den Lärm der Stadt von weitem und ab und an auch Vogelgezwitscher, das sie empfand, als gehöre dieses Zwitschern mit seiner Leichtigkeit hier nicht her. Und dennoch, diese zarten Vogelstimmen wirkten beruhigend. Sie lauschte. Irgendwann erhob sie sich. Sie verstaute ihre Utensilien in der Reisetasche, ging noch einmal zurück ins Bad, um in den Spiegel zu schauen. Lange sah sie sich selbst in die Augen, so als suche sie eine Antwort darin auf eine Frage, die ihr in der Seele brannte: „Warum hat es das Schicksal gefügt, dass ich Robert einst kennen lernte!? Warum haften Lebenswurzeln so tief, dass man sie nur unter unerträglichen Schmerzen ausreißen könnte, an denen letztlich selbst eine so starke Liebe zugrunde gehen würde?“ Würde sie je eine Antwort darauf finden, fragte sie sich. Sie hatten beide längst erkannt, dass sie zu tief verwurzelt waren in ihren Verpflichtungen, entstanden aus ihrem bisherigen Leben, diese Bindungen zu zerstören waren sie nicht imstande. Und sie waren nicht mehr jung genug für einen Neubeginn. In dieser Zeit der Erkenntnis hatte sie einst dieses Gedicht geschrieben, dass ihr jetzt nicht aus dem Kopf zu gehen schien. Ganz leise, obwohl in der Gewissheit, niemand könne sie hören, sprach sie es in die Stille des Zimmers:
Als die Nacht anbrach,
lag brennend die Seele wach.
Der Himmel hatte Feuer gefangen,
so heiß brannte das Verlangen.
Mut, die Träume zu leben,
schuldlos schuldig – alles vergeben…
Unterm Fenster duftet der Flieder
jedes Jahr wieder.
Die Sehnsucht quält sehr,
Flügel wachsen nicht mehr.
Wurzeln haften zu tief,
ich vergaß, als ich schlief…
Im Labyrinth verirrt,
die Seele verwirrt…
Zauber schließen mich ein,
fühl mich wie ein Kind so klein.
Der Blick kann nicht folgen
dem Weg der weißen Wolken,
man erkennt ihn nicht,
doch dahinter ein Licht…
wie ein Schattenspiel,
Feuerseele,
erwarte vom Traum nicht zu viel.
Genieße das Glück nur im Augenblick,
denn es kehrt niemals mehr zurück.
Die Sonne aus den Wolken
bricht wieder hervor.
Kein Erinnern mehr an die Zeit,
als die Seele erfror…
Hab Angst, dass ich sie verlier.
Feuerseele, leb ewig in mir!
Dann wie jedes Jahr im Garten wieder
duftet drunten aufs Neue der Flieder…
Schon in der Tür stehend sah sie ein letztes Mal zurück und ließ ihren Blick Abschied nehmend durch das Zimmer schweifen. Dann griff sie zur Klinke und zog langsam die Tür hinter sich ins Schloss. Der Portier lächelte ihr zu, als sie den Zimmerschlüssel an der Rezeption ablegte. „Gute Heimreise!“ wünschte er ihr freundlich. „Danke!“ erwiderte sie leise und verließ das Hotel. Unter dem Scheibenwischer ihres Wagens fand sie einen kleinen weißen Zettel. Darauf geschrieben stand „Ich liebe Dich!“ Ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht.Sie fuhr los, doch sie fuhr nicht sofort nach Haus. Inmitten der Stadt suchte sie einen Parkplatz und stieg aus. Sie bummelte durch die Straßen. Das Wetter war frühlingshaft sonnig und warm. Ihre Kostümjacke trug sie lose über den Schultern. Sie betrat das Halbdunkel eines kleinen Straßencafes und bestellte sich eine Portion Eis. Genießerisch strich sie mit der Zunge über die Lippen, als man den riesigen Becher vor sie hinstellte. Sie ließ sich von der netten Bedienung einige Tipps für die Sehenswürdigkeiten der Stadt geben und erhob sich, um sich auf den Weg zu machen. Sie schlenderte durch die Straßen, besuchte das kleine Kunstmuseum und den alten ehrwürdigen Dom, von wo aus sie am Abend zuvor hatte das Glockenläuten vernehmen können.
Langsam begann es zu dämmern. Plötzlich widerstrebte es ihr, die Heimreise anzutreten. Schon als sie über den Parkplatz ging, entschloss sie sich, zurück zum Hotel zu fahren. Nichts drängte sie zur Heimfahrt. Sie wollte noch bleiben. Und so fuhr sie zurück zum Hotel. Der Portier hob erstaunt die Augenbrauen, als sie ihm gegenüber stand. Sie lachte und schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe nicht liegenlassen!“ gab sie Bescheid, noch bevor er fragen konnte. „Bitte, ist das Zimmer noch frei?! Ich würde gern noch eine Nacht hier verbringen und lieber morgen in der Früh losfahren.“ Das Zimmer war noch frei und er gab ihr den Schlüssel. „Sie kennen ja den Weg!“ rief er ihr nach, als sie sich rasch in Richtung der Treppe entfernte. Ihr Herz klopfte ungestüm, als sie das Zimmer betrat. Sie warf sich bäuchlings aufs Bett und grub ihr Gesicht in die Kissen.
Doch es war bereits frisch bezogen, stellte sie enttäuscht fest. „Wie dumm von mir zu glauben, man habe das Zimmer nicht bereits wieder hergerichtet!“
Als es völlig dunkel war, öffnete sie das Fenster und setzte sich mit angezogenen Beinen auf das Fensterbrett. Lange saß sie so, träumend, sich erinnernd an die vergangene Nacht, an den Morgen und an den kurzen Abschied.
Plötzlich vernahm sie ein Geräusch, so schien es ihr. Sie wandte den Kopf, doch im Dunkel des Zimmers konnte sie nichts erkennen…Sie versuchte sich an das Dunkel im Zimmer zu gewöhnen, doch das Dämmerlicht verbarg selbst die Konturen des Mobilars im Raum. Vorsichtig tastete sie sich an die kleine Nachttischleuchte, um sie einzuschalten. Für einen Moment schloss sie vom Licht geblendet die Augen. Blinzelnd schaute sie in Richtung Tür. Sie verharrte reglos, an eine Sinnestäuschung glaubend. „Ist es ein Trugbild?“ durchzuckte sie fragend dieser Gedanke. Nein, es war kein Trugbild. Mit leicht hängenden Schultern stand Robert inmitten des Zimmers. Stumm ging sie einige Schritte auf ihn zu, fast ungläubig schaute sie zu ihm auf. „Du hier!?“ flüsterte sie fragend. Er bemerkte ihre Unsicherheit. „Ja, ich…ich bin es. Ich hoffte, ja, ich wünschte, dich noch anzutreffen.“ Erst, als er ihre Hände in die seinen nahm, löste sich ihre innere Starre. „Maria, was soll nur aus uns werden?“ Wortlos sah sie ihn an und hob langsam die Schultern, so, als wisse sie keine Antwort auf seine Frage. „Psst!“ Sie legte ihm die Hand mit sanftem Druck über die Lippen. „Jetzt nicht, später…Wir müssen jetzt nicht darüber sprechen.“ Dieser Wille über das „Später“ zu schweigen, nicht daran denken zu müssen, war fest verwachsen mit der längst vergangenen Zeit. Diese Erinnerungen an die Vergangenheit mit ihm, die unbeschwert und voller Vertrauen war, waren die Nahrung für ihre tägliche Fröhlichkeit, aus der sie ihre Kraft schöpfte. „Es ist so vieles unausgesprochen geblieben zwischen uns, Maria. Erinnerst du dich an unseren „letzten“ Abend damals vor einem Jahr?“ Sie erinnerte sich noch lebhaft an diesen letzten Abend, nach welchem für sie diese Zeit der bitteren verständnislosen Traurigkeit begann. Sie hatten sich verabredet für diesen Abend im Anschluss an eine Vernissage eines mit ihr befreundeten Malers. Intensität und Wärme strahlten seine Bilder aus, die oft ihre Phantasie angeregt hatten, ihre Gedanken dazu in Versen niederzuschreiben. Und fast unverständlich blieb ihr, wie er sich von diesen seinen Bildern durch den Verkauf nach einer solchen Ausstellung trennen konnte. Doch es war sein Broterwerb, hatte er erklärt, und jedes verkaufte Bild erfüllte ihn mit berechtigtem Stolz. Mit scheinbarer Leichtigkeit zauberte er ein wogendes Mohnfeld oder eine sich aufbäumende Flutwelle, die alles mit sich zu reißen scheint. Sie schätzte ihn und seine Kunst sehr.
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Sie stand umringt von einigen Besuchern der Ausstellung in der Nähe des Einganges. Voller fröhlicher Erwartung behielt sie den Eingang stets im Blick, um Roberts Eintreffen nicht eine Minute zu versäumen. Doch er kam nicht. Sie wartete vergebens, so glaubte sie. Eine müde Gleichgültigkeit befiel sie.Dennoch war sie bemüht, ihre innere Enttäuschung über sein Fernbleiben und die sich damit in ihr ausbreitende Traurigkeit zu verbergen. So plauderte sie nach außen hin unbeschwert mit den anderen weiter. Irgendwann erklang Musik und sie wurde um einen ersten Tanz gebeten.
Robert indessen hatte sich tatsächlich verspätet. Als er den kleinen Saal viel später als verabredet endlich betrat, hatte er sie zwischen all diesen fremden Menschen fröhlich plaudernd entdeckt. Noch bevor er durch das Gedränge zu ihr gelangen konnte, sah er sie lachend in den Armen eines Mannes tanzen. Er sah, wie sie sich augenscheinlich wohl fühlte, sich amüsierte und ihn scheinbar nicht vermisste. Diese Erkenntnis traf ihn erschreckend schmerzlich. Eben war er noch voller Freude, sie hier zu treffen, hoffend, sie werde sich eben so nach ihm sehnen, wie er nach ihr…Jagte er Gefühlen nach, deren Beständigkeit er bei nüchternem Verstand keinen Glauben schenken durfte? Hatte er sich schon zu tief auf etwas eingelassen, dem er hätte lieber ausweichen sollen? Dieser plötzliche Zweifel in ihm breitete sich aus und nahm ihm fast den Atem. Unbemerkt von Maria verließ er den Saal – fest entschlossen, sie nie wiederzusehen, um nicht noch tiefere Verletzungen ertragen zu müssen – nicht ahnend, dass auch für Maria an diesem Abend ebenso wie für ihn eine Welt zusammenbrach.
Als er diesen letzten „gemeinsamen Abend“ nun aus seiner Sicht schilderte, erschrak sie. Sie erschrak vor der plötzlichen Erkenntnis, wie verletzt er sich gefühlt haben musste. Und diese Erkenntnis gab ihr zugleich die Gewissheit, wie tief seine Empfindungen für sie waren. Wie konnte er wissen, dass ihr Lachen nur für die Außenstehenden bestimmt war. Betroffen erkannte sie, wie empfindsam diese nach außen getragene männliche Härte doch war. Sie verstand ihn und ahnte, welche Überwindung es ihn gekostet haben mag, sich zu seinem Irrtum zu bekennen, seinen Stolz zu überwinden und ihr mit den Songs zu sagen, was er nach so langer Zeit noch immer für sie empfand.
„Vielleicht haben wir diese lange Zeit des Schweigens gebraucht, um uns selbst und so auch dem anderen mehr denn je zu vertrauen?“ Sie sah ihn fragend an. „Ja, vielleicht…sicher ist es so.“ erwiderte er. Er schien erleichtert, so, als sei auch von ihm eine Last gewichen. Den Willen, solchen Wendungen im Leben, dem Gefühl des völligen „Verlorenseins“, diesen schmerzlichen Monaten, Tagen, Stunden, Minuten, ja Augenblicken selbst in der Erinnerung auf ewig zu entfliehen, das empfanden sie in diesem Moment gleichermaßen intensiv.
„Komm, genießen wir draußen die Stille der Nacht!“ Sie verließen das Zimmer, als wollten sie die Erinnerung an diesen verhängnisvollen Abend endgültig hinter sich lassen. Die Dunkelheit barg sie wie ein schützender Mantel. Die Gassen waren zu so später Stunde menschenleer. Durch die geschlossenen Fensterläden drang vereinzelt spärliches Licht nach außen. Wie Kinder hielten sie sich an den Händen. Die kühle Nachtluft wirkte beruhigend. Der Mond verbarg sich zumeist hinter dichten Wolken.
Das Wechseln des hellen Mondlichts mit der darauf folgenden Finsternis, wenn er wieder hinter den dahin ziehenden Wolkenschleiern verschwand, warf huschende Schatten in die schmalen Fluchten zwischen den eng aneinander stehenden kleinen Häusern. Schweigend nahmen sie diese Eindrücke in sich auf, jeder den eigenen Gedanken nachhängend. Keiner von Beiden hätte sagen können, wie lange sie so durch die schlafende Stadt gegangen waren.
Müde erreichten sie schließlich wieder das Hotel. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und so machten sie auch kein Licht im Zimmer. Ermattet legten sie sich auf das Bett. Dicht aneinander gedrängt schliefen sie traumlos bis zum Morgen. Der erwachende Tag hatte ihnen die innere Ruhe zurückgebracht. Es war eine wundervolle Vertrautheit zwischen ihnen und wohltuend, die Wärme des anderen zu fühlen. Die Anspannung des vergangenen Abends war von ihnen gewichen. „Was hast du geträumt?“ fragte Robert sie. Einen Moment lang dachte sie nach. „Nichts! Und du?“ „Ich auch nichts!“ Schmollend verzog sie den Mund. „Du willst es mir nur nicht erzählen.“ Er lachte und fragte: „Erinnerst du dich an unseren Traum, den wir einst beide in ähnlicher Weise träumten?“ „Aber ja, wie könnte ich ihn je vergessen.“, antwortete Maria. „Wollen wir ihn heute leben, unseren Traum?“ „Oh ja – gibt es denn hier in der Nähe einen See?“ „Ja, es gibt einen kleinen See, komm, fahren wir ihn suchen!“
Er fuhr mit seinem Wagen voraus. Weitab von dem allmählich beginnendem Lärm der Stadt, umgeben von bunt blühenden Wiesen, die sich bis zum Horizont ausdehnten, wo sie den Himmel zu berühren schienen lag er am Rande eines Waldes, dessen dunkles Grün der hohen Tannen stimmungsvoll aufgehellt wurde durch das zartgrüne Blattwerk weißstämmiger Birken. Er nahm sie bei der Hand. Barfuß ging sie durch das kniehohe Gras. Der Wind verfing sich in ihrem losen Kleid. Ein sanftes Rauschen verursachte der Wind in den Wipfeln der Bäume.
Am Ufer des Sees, in welchem sich das helle Blau des Himmels und die dahin ziehenden weißen Wolken widerspiegelten, setzten sie sich nieder. So wie in dem Traum von einst lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. „Endlich! Endlich ist unser Traum Wirklichkeit. Wir haben das Paradies gefunden, es ist wahr geworden, das Paradies ist hier und in uns – dort werden wir es bewahren und immer wiederfinden, wenn wir uns daran erinnern bis in Unendlichkeit.“ Lachend warf sie den Kopf in den Nacken, breitete die Arme aus und rief: „Ich halte dich fest, ganz fest, du Unendlichkeit!“ Mit strahlendem Lächeln sah sie ihn an, als er sagte: „Ja, vielleicht hast du Recht, das Paradies gibt es nur in uns selbst. Nur dort können wir es uns dauerhaft bewahren – in den Gedanken und in unseren Erinnerungen.“ Und sie hatten keine Angst mehr vor der bevorstehenden Trennung. Sie wussten, eine wirkliche Trennung würde es für sie beide innerlich nie mehr geben. Nebeneinander auf dem Rücken liegend sahen sie den ziehenden Wolken nach. Leise sprach sie ein Gedicht:
Ich träumte im Schatten der Bäume
an einem kleinen See,
ich ließ die Beine drin baumeln,
der See war eiskalt wie Schnee,
doch mein Herz erwärmte von innen,
denn im Herzen, da branntest du,
und dieses Brennen im Innern
erwärmte den See im Nu.
Er richtete sich auf und beugte sich über sie. Sie schloss die Augen, umfing mit beiden Händen seinen Nacken und zog ihn übermütig lachend zu sich herab. Ihre fröhliche Ausgelassenheit steckte ihn an. Mit einem Grashalm kitzelte er ihre Lippen, ihre Wangen, ihren Hals, bis sie sich aufrichtete und ihn rücklings ins Gras warf. Als sie sich über ihn beugte, verstummte plötzlich ihr Lachen. Lange sah sie ihn an, so, als müsse sie sich seinen gelösten Gesichtsausdruck für lange Zeit einprägen. „Wir müssen zurück, nach Hause zurück, Robert!“, flüsterte sie hastig. Zögernd kam seine Antwort: „Ja, das müssen wir!“ Sie stand auf, zupfte die Grashalme vom Kleid. Noch liegend sah er ihr zu, wie sie sich mühte, ihr Haar in Ordnung zu bringen. Dann streckte sie ihm ihre Hände entgegen. „Komm, steh auf!“ Schweigend stand er auf. Als sie zurück durch die Wiese gingen, legte er den Arm um ihre Schultern. Eng aneinander geschmiegt gingen sie bis zu ihren am Feldweg geparkten Wagen zurück.
„Wir werden uns wiedersehen, Maria, hier, an diesem See, an unserem See.“ „Ja!“ „Ich liebe dich!“ Sie sah ihn an und lächelte. Der Abschied war kurz, die letzte Umarmung, der letzte Kuss intensiv. Doch für Traurigkeit war kein Platz. Sie hatten in sich die Gewissheit, ihr Paradies gefunden zu haben. So war ihr Abschied voller glücklicher Zuversicht. Bis zur Hauptstraße fuhr er mit seinem Wagen hinter dem ihren her. Dort aber würden sich ihre Wege auf unbestimmte Zeit in verschiedene Richtungen wieder trennen. Kurz vor der Hauptstraße sah sie ihn zum letzten Mal in ihrem Rückspiegel. Winkend hob sie die Hand und warf ihm einen Handkuss zu, den er lächelnd erwiderte. Dann bog sie ab auf die Hauptstraße. Doch plötzlich tauchte vor ihr ein riesiger dunkler, undefinierbarer Schatten auf. Ein LKW kam mit hoher Geschwindigkeit von der Gegenseite der Fahrbahn auf sie zu, um in den Feldweg einzubiegen, aus dem sie kam. Er hatte wohl ihren Wagen zu spät bemerkt. Sie hörte das Kreischen der Bremsen, das gespenstische Knirschen, aufgewirbelter dichter Staub versperrte ihr die Sicht. Dann ein dröhnendes Krachen.
Die Zeit war plötzlich stehen geblieben. All die menschliche Weisheit würde nicht ausreichen, um die Wege des Schicksals vorauszusagen.
Als sie die Augen öffnete, sah sie über sich den blauen Himmel, die weißen noch immer ruhig dahin ziehenden Wolken, die hohen Grashalme neben sich. Dann erkannte sie Roberts Gesicht. War sie noch am See? War sie eingeschlafen? Was war Traum, was Wirklichkeit? Sie war verwirrt. Das Erstaunen über diese Szene lähmte ihr Denken.
„Ich liebe dich!“ flüsterte Robert. Die Tränen rannen ihm die Wangen herab. „Warum weinst du?“, fragte sie, doch ihre Lippen bewegten sich nicht mehr. „Warum kann ich nicht sprechen?“, wollte sie ihn fragen, als er sich über sie neigte, um ihr das Haar aus der Stirn zu streichen. Sie sah plötzlich Blut an seinen Händen. „Bist du verletzt?“, fragte sie ihn erschrocken. Er schien sie nicht zu verstehen. Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie fühlte seine Lippen, doch sie war nicht imstande, seinen behutsamen Kuss zu erwidern. „Warum wird es plötzlich so dunkel?“ Sie konnte ihre eigene Stimme nicht hören, wie also hätte Robert sie verstehen können. Ihr Flüstern blieb tonlos. Ohne dass er sich entfernte von ihr, nahm sie sein Gesicht dennoch immer verschwommener wahr. Sie wollte ihn in plötzlich aufsteigender Angst festhalten, doch sie konnte ihre Hände nicht nach ihm ausstrecken. Er schien es bemerkt zu haben, denn im gleichen Moment nahm er ihre beiden Hände in die seinen und hielt sie fest. Ein beruhigendes Lächeln glitt über ihre Gesichtszüge. Ein Gefühl innerer Ruhe bereitete sich in ihr aus.
Es war ihr, als würde sich der Himmel zusehends über ihr verdunkeln. Ein kurzer, kalter Schauer durchrann ihren Körper. Das Letzte, was sie wahrnahm, war die Wärme seiner Hände…
„Bleib bei mir, Maria!“ Doch sie hörte ihn nicht mehr...
Der Morgen hat milde Luft gebracht. Munteres Vogelgezwitscher übertönt das stumme In-sich-Zurückziehen. Die nächtliche Feuchte haftet noch an Geäst und Gesträuch als wundersame winzige Wasserkugeln, die silbrig schimmern in all dem verhangenen Grau des farblosen Morgens.
Irgendwo schlägt ein Hund an. Sein langgezogenes klagendes Bellen scheint die frühe Stille zu durchschneiden. Das Bellen bricht plötzlich ab, setzt wieder an und verliert sich. Alles scheint wie zuvor. Aber es scheint nur so.
In mir das Paradies…
Morgentau,
frisches Grün,
perlenglitzernd,
wie ein Blüh'n
überall um uns herum,
es zu schauen
macht uns stumm....
perlt die Rose sanft im Tau,
noch neblig ist der Tag…
und grau,
dann
der erste Sonnenstrahl
verleiht ihr strahlend’ Glanz
bis sie am dunklen Abend
neigte sich
und stumm verwelkte ganz...
tausendfach Vergissmeinnicht
himmelblau verträumt
spiegelt sich im Sonnenlicht
unsern Weg einsäumt
rückwärts schauend
Löwenzahn
purpurgelb im Grün
fühlend,
wie dies’ Pracht erbauend
gänzlich ohne Müh’n
in uns
zeigt den wahren Wert
tausendfaches Blühen..
Trunken fast in all der Wonne
ein Gedanke:
DU
während ich an deiner Schulter
fühlend in mir ruh’
tausendfach Vergissmeinnicht
himmelblau verträumt
spiegelt sich im Sonnenlicht
unsern Weg einsäumt…
Droben in den Wipfeln
schattig hoher Bäume
im Nest ein Vöglein schläft
inmitten seiner Träume
warm eingebettet liegt
und träumt,
...wie ich,
es fliegt...
ihr habt soeben die noch unveröffentlichte Fortsetzung meiner Erzählung
"Langer Abschied von Robert"
gelesen...